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Wurz: Ferrari treibt Fahrer ins Burn-out

Sebastian Vettel

Sebastian Vettel. Credit: Ferrari

Wenn sich Ferraris Haus- und Hof-Journalist plötzlich gegen die Scuderia wendet, muss sich etwas Bedeutendes ereignet haben. Der italienische Reporter Leo Turrini schreibt für gewöhnlich für eine Tageszeitung in der Emiglia Romagna. Seine Texte werden also auch in Maranello gelesen, dem Stammsitz von Ferrari. Deshalb füttert ihn der Rennstall immer wieder mit exklusiven Informationen. Im Gegenzug berichtet Turrini auf roter Linie. Außer in diesem einen Artikel.

„Alonso + Vettel. 2010-2020 = null Titel“, schrieb der Italiener zuletzt in seinem Formel-1-Blog und sorgte damit für ein Erdbeben im Ferrari-Land. Denn er unterfütterte seine Rechnung mit folgender Argumentation: „Es war weder Alonsos noch Sebs Fehler. Zwischen 2020 und 2020 hat Ferrari einfach kein dominantes Auto gebaut. Manchmal hatten sie ein Siegerauto, aber nie eine dominierende Maschine.“

Der Vorgang ist äußerst ungewöhnlich. Ein italienischer Journalist sucht und findet die Schuld bei Ferrari. Bei dem Team, das eigentlich die Strategie perfektioniert hat, jegliche Verantwortung auf die Piloten abzuwälzen. Doch die Beweiskette wiegt in diesem Fall zu schwer. Erst scheiterte Doppelweltmeister Alonso am Grande Casino, der Politik in Ferrari-Rot. Jetzt Vierfachchampion Vettel. 

Die Zukunft: zwei Piloten, die gemeinsam gerade erst elf Podestplätze in die Waagschale werfen. Zwei Frischlinge also, die es jetzt besser machen sollen. Die Weltmeister von gestern haben ausgedient. Typisch Ferrari.

„Ferrari erwartet viel von seinen Piloten“

„Ferrari erwartet viel von seinen Piloten“, analysiert der Präsident der Fahrervereinigung, Alex Wurz. „Erst lieben sie dich, auch dann, wenn du kritisch bist, sie antreibst. Aber wenn der Erfolg ausbleibt, schießen sie zurück, sichern ihr eigenes Erbe, ihre Arbeit, ihre Qualität. Dann kommt es unweigerlich zu Spannungen.“ Woran das liegt? Der Österreicher: „Am Druck von außen, aber vielleicht auch am südeuropäischen Lebensstil. Das ist ein gefährlicher Mix.“ 

Fakt ist: Diese gefährliche Mischung kennzeichnet Ferrari vor und nach der Ära Michael Schumacher. Ein Meister seines Fachs sucht die Erfüllung in Rot – und wird am Ende aussortiert. Schon bei Fernando Alonso war sich Ferrari nicht zu schade, Journalisten in der Trennungsphase um negative Berichterstattung zu bitten. Ein Muster, das sich jetzt wiederholt. In der Szene wird die Scuderia nicht müde zu betonen, dass man sich von Vettel getrennt hat – und nicht umgekehrt. Eine gezielte Indiskretion des italienischen Traditionsteams, mit der Ferrari die Kontrolle im Fahrer-Wechsel-Dich-Spiel suggerieren will.

Dabei hat Vettel nur einen Fehler gemacht: zu glauben, dass er den Ferrari-Fluch mit seinen deutschen Tugenden brechen kann. Es endete, wie so oft, wenn ein Spitzenpilot seinen rosaroten Traum erfüllen will: im Drama. Ganz rational, in Zahlen heißt das: 76 Fahrer sind bisher für Ferrari in der Formel 1 gestartet, nur 38 davon haben überhaupt ein Rennen gewinnen können, nur neun wurden mit den Italienern auch Champion.

Sechs Weltmeister bei Ferrari ohne Titel geblieben

Mehr noch: Nicht weniger als sechs Weltmeister sind bei Ferrari ohne Titel geblieben. Giuseppe Farina, Mario Andretti, Alain Prost, Nigel Mansell, Fernando Alonso und nun eben auch Vettel gehören zu jener Gattung der besten aller Formel-1-Fahrer, die im legendären roten Overall verzweifelten. Prost wurde 1991 sogar ganz vom Hof gejagt, nachdem er die Lenkung der roten Göttin mit der eines LKWs verglich. 

Ein Fauxpas, den sich Vettel nicht leistete. Obwohl er mehr als genug Gründe gehabt hätte, seinen mythischen Arbeitgeber zu kritisieren. Denn Vettels Karriere in Rot ist gekennzeichnet vom Versagen der Scuderia. Mal streikte die Technik, mal ging die Strategie nicht auf, mal wurde Vettel Opfer des Machtkampfes zwischen Mattia Binotto und Ex-Teamchef Maurizio Arrivabene. Kurz: Ferrari machte Ferrari-typische Fehler. Zuletzt verpasste es das Team, alles auf die Karte Vettel zu setzen und fand den neuen Heilsbringer viel zu früh im jungen Monegassen Charles Leclerc.

Ein Umstand, der auch dem Hessen nicht entgangen ist. Spätestens, als Teamchef Binotto ihn in Russland 2019 zum ungerechtfertigten Platztausch mit Leclerc aufforderte und Vettels Ungehorsam mit einem absichtlich zu späten Boxenstopp bestrafte, dürfte dem Heppenheimer klar geworden sein: Er ist nur noch Auslaufmodell. Die Fahrfehler, die sich in den letzten beiden Jahren häuften; ein Resultat des fehlenden Rückhalts innerhalb des Teams mit dem höchsten Politik-Potential im Haifischbecken der Königsklasse. 

Das hat Folgen. Unschöne für die Fahrer, aber auch für die italienische Diva. In den letzten 40 Jahren wurden nur zwei Piloten mit Ferrari Weltmeister: Michael Schumacher und Kimi Räikkönen. Wobei Letzterer von den Ausläufern der Schumacher-Ära profitierte, in der man mit- und nicht gegeneinander arbeitete. 

„Zusammen mit Michael hatten wir so viel Erfolg, weil wir ein sehr geeintes, starkes Team hatten, das sich gegenseitig unterstützte, mehr noch in den schwierigen als in den guten Zeiten“, fasst Ex-Teamchef Jean Todt fasst das erfolgreiche Schumacher-Intermezzo zusammen. Der heutige FIA-Präsident nutzt die Metapher des Seglers, um die Stärke des Ferrari-Teams der frühen 2000er zu unterstreichen: „Wenn wir uns in rauer See befanden, waren wir alle auf dem Boot, und ich denke, das machte den Unterschied aus.“

Erst Liebe, dann Burn-out

Heute ist Ferrari wieder zur Diva mutiert. „Erst ist es die ganz große Liebe zwischen Fahrer und Team“, rekapituliert Ex-Formel-1-Pilot Wurz, „doch irgendwann treibt das System den Fahrer für ein Burnout – sogar bei einem wie Fernando Alonso.“ Und nun eben auch bei Sebastian Vettel, der nichts sehnlicher wollte, als die Schumacher-Story neu zu schreiben und dabei am Mythos gescheitert ist.

Immerhin sieht das auch Italiens Ferrari-Experte so. Schlusswort Leo Turrini: „Ich mag Seb als Fahrer und als Mann. Ich weiß, wie sehr er mit Ferrari gewinnen wollte und ich weiß, dass er alles dafür getan hat. Das Schicksal ist einfach nicht immer gut zu großartigen Menschen.“ 

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