Die Königsklasse verkommt immer mehr zur Reifenoper. Alle Hintergründe über den Streit zwischen den Top-Teams um Pirellis Gummis.
Einigkeit ist in der Formel 1 eine Ausnahmeerscheinung. Zwist, Hadern und mit dem Finger auf andere zeigen ist die DNA, die fest in den Zellen der Verantwortlichen der automobilen Königsklasse verankert ist.
Es wird immer ein Thema zum Ärgern gefunden. Im Moment sind es die Einheitsreifen von Monopolist Pirelli, welche die Formel 1 zur Reifenoper verkommen lässt.Wie am Donnerstag an der Strecke in Spielberg bekannt wurde, treffen sich die Teams und Reifenlieferant Pirelli am Freitag um 9 Uhr zum großen Walzen-Talk.
Hintergrund: Nach den acht Mercedes-Siegen in den ersten acht Rennen 2019 ist unter den Teams die Diskussion entbrannt, ob der neue Einheitsreifentyp von Pirelli des Jahrgangs 2019 mit der steiferen Konstruktion sowie einer um 0,4 mm verringerten Laufflächendicke das Mercedes-Team bevorzuge.Lewis Hamilton rechtfertigt die aktuellen Pneus:
„Die Reifen waren letztes Jahr noch schlimmer. So wie in Frankreich am Ende noch mal zu pushen oder ein Auto so wie Vettel in Kanada unter Druck zu setzen, wäre 2018 nicht gegangen.“ Klar, dass der Brite so reden muss.
Für Sebastian Vettel ist klar: „Fakt ist, dass Mercedes mit diesen Reifen einen guten Job macht und wir aufholen müssen. Fakt ist auch, dass wir zu den Teams zählen, die mehr Probleme haben die Reifen zum Laufen zu bringen.“
Denn die Reifen mit dünnerer Lauffläche, die Pirelli in dieser Saison präsentiert hat, funktionieren nur auf dem Mercedes und teilweise McLaren problemlos. Allen anderen Teams geben die Pneus nach wie vor Rätsel auf. Haas-Teamchef Günter Steiner kritisiert:
„Bei uns ist es eine reine Achterbahnfahrt. Mal sind die Pirellis im Temperaturfenster, mal nicht. Aber es ist eine Lotterie. Wir wissen immer noch nicht genau, warum das so ist. Es ist einfach nicht im Sinne des Sportes, dass die Reifen einen so großen Einfluss auf Erfolg und Misserfolg haben. Nur Mercedes weiß doch, was zu tun ist, um die Pneus richtig nutzen zu können. Bei McLaren ist es dagegen reiner Zufall.
„Dem widerspricht McLaren-Teamchef Andreas Seidl. Der Niederbayer sagt: „Es stimmt, dass wir gut klarkommen. Es stimmt aber nicht, dass dies Zufall ist. Wir wissen ganz genau, was wir tun müssen, um die Reifen zum Arbeiten zu bringen. Außerdem wäre es nicht sportlich, mitten in dieser Saison den Reifentyp zu ändern.“
Allein: Genau das hat Pirelli 2018 schon einmal getan. Nach Drängen von Mercedes brachte Pirelli zu drei Rennen der letzten Saison (Spanien, Frankreich, Großbritannien) die Vorläufer der Reifen für dieses Jahr. „Mit dem Ergebnis“, so Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko, „dass Mercedes bei diesen drei Rennen im Gegensatz zu sonst keine Probleme mehr mit überhitzenden Hinterreifen hatte. In dieser Saison ist es genau umgekehrt. Mercedes bekommt die Reifen ins optimale Temperaturfenster, die anderen Teil nicht mehr.“
Haas-Boss Steiner ergänzt: „Im Prinzip hat Pirelli das Temperaturfenster nur ein Stockwerk höher gelegt. Deshalb ist Mercedes im Fenster, wir anderen nicht.“Was das besondere
Geschmäckle ergibt: Hat Pirelli 2018 nach dem Jammern aus Stuttgart aus Sicherheitsgründen die Reifen geändert, so bestehen die Italiener jetzt auf die Regel, die sinngemäß besagt: Wenn keine akuten Sicherheitsbedenken bestehen, müssen sieben von zehn Teams eine Änderung fordern, sonst bleibt alles wie es ist. Diese sieben Teams wird es aber nur schwer geben.
Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko frustriert: „Wie soll man das schaffen? Mercedes hat sein Satellitenteam Racing Point auf seiner Seite und McLaren. Der Verlierer ist auf jeden Fall der Sport und am Ende der Fahnenstange die Fans.“
Marko fühlt sich dabei als Anwalt des Sports, der durch die Mercedes-Dominanz immer mehr an Interesse verliert. „Wir sind in der Formel 1 nicht verpflichtet, irgendeinem Team einen Vorteil zu verschaffen. Wir sind den Fans verpflichtet, damit sie das bestmögliche Racing sehen.“
Erstmals hatte er in AUTO BILD MOTORSPORT Klartext gesprochen. Die Reaktion von Pirelli auf die harten Vorwürfe ließ nicht lange auf sich warten.Dabei geht es dem Red-Bull-Doc nicht nur um die Reifen. Marko kämpft insgesamt um mehr Chancengleichheit und zieht den Vergleich mit der MotoGP.
Marko: „In der MotoGP-WM bekommen die Werke, die neu einsteigen, wieder einsteigen oder seit Jahren keinen Podestplatz vorzuweisen haben, technische Zugeständnisse. Mehr Motoren pro Saison, mehr Testfahrten, die Motorenentwicklung ab Saisonstart ist nicht eingefroren. So konnten Ducati, Suzuki und KTM zu Honda und Yamaha aufholen. Jetzt sind oft alle sechs Fabrikate in den Top-Ten. In der Formel 1 hat sogar Honda mit dem 1,6-Liter-Motor in mehr als vier Jahren noch nie gewonnen. In der Formel 1 kann der Rückstand kaum aufgeholt werden.“
Und besonders auf eins will der Grazer hinweisen. „Ich verstehe gar nicht, warum ich mich verteidigen muss, wenn ich den Missstand bei den Reifen anspreche. Klar, wir waren mit Vettel auch vier Jahre dominant, aber nie so dominant wie Mercedes in der Gegenwart, wir haben ganz selten Doppelsiege errungen.
Wichtiger ist aber: Als wir dominiert haben, sind wir im Jahr durch verschiedene Änderungen eingebremst worden. Da hat der Flügel zuerst 50 und dann 100 Prozent mehr Steifigkeit haben müssen, es gab die Änderung beim Abgas-Diffusor. Da waren alle Änderungen während der Saison möglich. Heute nicht mehr. Da kann jeder mal darüber nachdenken, warum!“
*Dieser Artikel ist als Erstes in AUTO BILD MOTORSPORT (ABMS) erschienen.