Ferrari-Teamchef Mattia Binotto im Interview mit AUTO BILD MOTORSPORT über Sebastian Vettel und warum der Deutsche Geduld braucht
Herr Binotto, ist der Job als Ferrari-Teamchef schwieriger oder nicht so schwierig, wie Sie sich ihn zuvor vorgestellt haben?
Mattia Binotto (49): Weder noch. Ich genieße ihn einfach. Weil ich jetzt das ganze Bild vor Augen habe. Ich habe aus der Vergangenheit eine Menge von verschiedenen Teamchefs lernen können. Von der Art, wie sie ein Team führten. Jetzt liegt es an mir, das Team noch besser zu machen und es weiterzuentwickeln. Ganz wichtig ist es, immer die Nähe zu den Fahrern zu haben. Es ist eine Aufgabe, die manchmal auch herausfordernd ist, besonders wenn man nicht gewinnt. Man muss sich der Situation stellen und entsprechend mit ihr umgehen. Wichtig ist immer, die Motivation aufrecht zu halten. Das ist bei uns der Fall.
Sie wirken immer so ausgeglichen und ruhig. Wie gehen Sie mit dem ganzen Stress um?
Ich schaue immer nach vorne, nicht nach hinten. Meine Leitlinien: Miteinander reden, ufeinander zugehen. Information austauschen. Fehler sind erlaubt, habt Spaß an der Arbeit. Stabilität, Vertrauen, Leidenschaft – das alles sind Schlüsselfaktoren. Das fassen wir unter dem Hashtag EssereFerrari zusammen. Aber das heißt nicht, dass wir es akzeptieren, nicht zu gewinnen. Als Überschrift der einzelnen Punkte könnte man sagen: Über allem steht das Team. Aber das Team ist im Aufbau. Das erfordert auch Geduld.
Sebastian Vettel ist seit 2015 bei Ferrari. Wie viel Geduld hat er noch?
Binotto (lächelt): Es ist sicher nicht einfach für ihn, keine Frage. Er hat diesen Traum mit Ferrari Weltmeister zu werden und wir unterstützen ihn dabei, diesen Traum zu verwirklichen. Er versteht seine Rolle, die er in dem Neuaufbau des Teams hat. Er ist sehr wichtig für mich. Weil er viel Erfahrung hat, weil er Expertise und große Fähigkeiten hat. Er ist einerseits ein Teamplayer, auf der anderen Seite eine Führungspersönlichkeit, die große Begeisterung an der Arbeit hat. Er genießt seinen Job auch, wenn er nicht gewinnt, was nicht so einfach ist. Aber er weiß, dass diese Begeisterung ein Schlüssel dafür ist, in Zukunft zu siegen. Und er weiß auch: Niemand kann alleine gewinnen, das können wir nur alle zusammen. Das Team ist die Basis.
Wie geht er mit der aktuellen Situation um?
Er ist immer konzentriert und fokussiert, was unsere Ziele betrifft. Er weiß: Er kann dem Team am meisten helfen, wenn er die beste mögliche Leistung bringt.
Was denken Sie, wenn er wie in Montreal voller Wut in das Motorhome rennt und später die Platzierungsschilder vertauscht?
Für mich hat er alles richtig gemacht. Er hat auf der Strecke wie ein Löwe gekämpft und war nach dem Rennen total enttäuscht. Er hat seine wahren Gefühle gezeigt, da ist nichts falsch dran.
Anders ausgedrückt: Ferrari steht sehr für Emotion und Vettel hat genau diese gezeigt…
Genau.
Vettel muss seit letztem Jahr viel Kritik einstecken. Berechtigt?
Nein. Es waren immer Rennsituationen, bei denen Sebastian am absoluten Limit war – manchmal eben auch drüber. Unsere Fahrer müssen im Moment noch risikoreicher fahren, um mitzuhalten. In Kanada beispielsweise war es nicht einfach für Seb vor Hamilton zu bleiben, der wahrscheinlich das etwas schnellere Auto hatte.
Wie reden Sie mit ihm nach solchen Rennen?
Wir schauen schnell wieder nach vorne. Die Zukunft ist immer wichtiger als die Vergangenheit. Wichtig ist, dass er spürt, dass wir ihm vertrauen und auf ihn bauen. Und das tun wir.
Sie haben als Ingenieur mit Michael Schumacher gearbeitet. Was haben Sie von ihm gelernt?
Niemals aufzugeben. Und wie wichtig harte Arbeit ist. Selbst in den Jahren, als Ferrari vorzeitig den WM-Titel gewann, wollte Michael keinen Stillstand sehen, sondern immer weiter arbeiten.
Erinnert Sie die Arbeitsweise von Sebastian an die von Michael?
Ja. Beide sind Führungspersönlichkeiten. Beide sind Champions. Beide extrem harte Arbeiter.
Sie haben jetzt mit Mick Schumacher Michaels Sohn im Ferrari-Juniorkader…
Ja, das ist ein schönes Gefühl. Aber wir haben auch eine Verantwortung. Mick ist erst 21. Wir müssen ihm die Möglichkeit und die Zeit geben, sich zu entwickeln.
Wann holt Ferrari endlich den ersten Saisonsieg?
Ferrari hat noch nicht gewonnen, stimmt. Aber auch, weil wir einige Möglichkeiten ausgelassen haben. Von den Zahlen her scheint Mercedes derzeit in der Tat überlegen. Aber der Abstand ist in Wahrheit kleiner. Warum sind wir im Moment nicht vorne? Auch, weil wir in der zweiten Saisonhälfte vergangenes Jahr an Boden verloren haben. Davon müssen wir uns immer noch erholen. Wir sind ein Team in Aufbau. Nicht nur vom Alter her, sondern auch, weil viele unserer Leute im Vergleich zu Mercedes beispielsweise noch nicht lange in ihren momentanen Positionen sind. Erst wenn man entsprechende Erfahrung gesammelt hat, kann man da seine Höchstleistung abrufen. Fest steht aber: Wir haben genau die richtigen Leute auf den richtigen Positionen. Wir sind auf einem guten Weg.
Wird Vettel mit Ferrari also Weltmeister?
Das ist unser Ziel.
*Dieser Artikel ist als Erstes in AUTO BILD MOTORSPORT (ABMS) erschienen.