F1-insider.com blickt in einer neuen Serie auf das Jahr 2019 zurück. Den Start machen wir mit Sebastian Vettel. Der Heppenheimer hat anders als Michael Schumacher auch im fünften Ferrari-Jahr keinen WM-Titel geholt. Eine Analyse
Er wollte es wie sein großes Idol machen. Nach vier Jahren Aufbauarbeit im fünften Jahr den ersten WM-Titel für Ferrari einfahren. Doch für Sebastian Vettel (32) war schon zur Saisonhälfte klar: Das fünfte Jahr, das ihn in Italien zum Champion der Ewigkeit krönen sollte, wurde zum verflixten.
Mercedes war einfach zu stark. Das lag nicht in der Macht des Heppenheimers. Doch Pech, eigene Fehler und ein rebellischer junger Teamkollege, der den Welpenschutz von Ferrari voll auskostete, entfernten Vettel weiter als je zuvor vom Image, das Michael Schumacher immer noch hat.
Die traurige Wahrheit ist: Während Michael Schumacher längst Heiligenstatus in Italien genießt, gilt der Zimmermannssohn aus Hessen bei den streng katholischen Tifosi eher als Sünder, der Ferrari im Stich gelassen hat.
Die Gründe des Scheiterns sind vielfältig. Fakt ist: Vettel war nicht in der Position bei Ferrari, in der sich Schumacher bei seinem ersten WM-Titel für das rote Heiligtum im Jahre 2000 befand. Die einzige Gemeinsamkeit war: Beide kamen zur Scuderia und fanden einen Rennstall vor, der neu organisiert werden musste.
Allein: Während bei Schumacher Rennleiter Jean Todt schon drei Jahre lang das Fundament gegossen hatte, war in Vettels Fall noch nicht einmal der Keller ausgegraben. Intrigen und Machtkämpfe bestimmen in der Vettel-Ära den Alltag bei Ferrari – mit dem Höhepunkt, dass ausgerechnet vor der entscheidenden fünften Saison mit Ex-Technikchef Mattia Binotto (50) ein neuer Teamchef in Maranello einzog.
Binotto, ein Typ, der aussieht wie ein ewiger Abiturient, der kein Wässerchen trüben kann, hatte den Machtkampf gegen Maurizio Arrivabene gewonnen und gezeigt, welches Intrigenpotenzial doch hinter seiner Unschuldsmiene schlummerte. Gerhard Berger (60), Ferrari-Intimus und heutiger DTM-Chef, sieht das Unpolitische in Vettels Wesen deshalb als Hauptgrund an, warum das Projekt WM-Titel 2019 scheitern musste. Berger zu AUTO BILD MOTORSPORT: „Sebastian wollte sich nicht mit Politik beschäftigen. Das liegt nicht in seiner Natur. Doch so wie 2019 die Dinge bei Ferrari lagen, hätte er früh auf den Tisch hauen müssen und klarstellen, dass der neue Teamkollege Charles Leclerc für ihn fahren sollte.“
Berger weiß auch: „Michael Schumacher war da anders. Er ließ nie Zweifel daran, wer bei Ferrari die Nummer eins ist. Ich glaube, Vettels Kampf mit Leclerc kostete unnötige Kraft und Energien, die man sich aber im Kampf gegen einen Hamilton nicht leisten kann.“
Was Vettel laut Berger versäumt hat: Ferrari-Liebling Leclerc in die Schranken weisen, den Youngster gefügig machen und wie Schumacher 2000 dann auf volle Unterstützung des Teams hoffen.
Denn: Als Schumacher ins Jahr 2000 ging, war Ferrari unter der Führung von Rennleiter Jean Todt und seinem Lieblingsangestellten Michael Schumacher klar aufgestellt. Todt, Technikchef Ross Brawn und Schumacher bildeten ein Triumvirat, das alles für den Erfolg tat. Dazu gehörte: Der Brasilianer Rubens Barrichello, der den Iren Eddie Irvine als neuer Teamkollege Schumachers ersetzte, bekam von Anfang an von Todt nur eine Aufgabe zugeteilt: Er musste Schumacher dienen und durfte nur gewinnen, wenn der Deutsche nicht mehr die Möglichkeit dazu hatte. Hätte Barrichello den Aufstand geprobt wie bei Vettel Leclerc, der Brasilianer hätte im Gegensatz zu Leclerc keine große Zukunft bei Ferrari gehabt.
Allein: Im Gegensatz zu Schumacher in seinem Erfolgsjahr 2000 machte Vettel in dieser Saison auch unnötige Fehler. Schon beim zweiten Rennen in Bahrain drehte er sich im Zweikampf mit Lewis Hamilton von der Strecke, wurde danach nur Fünfter. In Kanada verlor er in Führung liegend vor dem immer schneller werdenden Hamilton kurz die Konzentration und fuhr in die Auslaufzone. Weil er nach Meinung der Rennkommissare zu brutal auf die Strecke zurückkehrte, wurde er mit einer Fünf-Sekunden-Strafe belegt, die ihn den sicheren Sieg kostete.
In Silverstone fuhr er Max Verstappen nach dessen Überholmanöver ins Heck. Der Heppenheimer musste seinen Frontspoiler ersetzen und kassierte zusätzlich zehn Strafsekunden. Mit dem Ergebnis, dass er es nicht einmal mehr in die Punkte schaffte.
Der Tiefpunkt folgte in Monza. Vettel drehte sich in der Ascari-Schikane. Bei seiner Rückkehr auf die Strecke übersah er Lance Stroll. Die Rennleitung verhängte eine 10-Sekunden-Stop-and-go-Strafe gegen den Deutschen. Am Ende wurde er überrundeter Dreizehnter. Schlimmer noch: Leclerc, von der Pole gestartet, gewann Ferraris Heimrennen und wurde gefeiert wie früher Michael Schumacher.
Dass er im Abschlusstraining eine Absprache gebrochen hatte, indem er Vettel den Windschatten verweigerte, war vergessen.
Die italienische Presse forderte den Nummer-eins-Status für Leclerc. Den Glauben an den Deutschen hatten sie endgültig verloren.
Für Vettel spricht: Er schaffte es aus dem Tief wieder heraus. In Singapur gewann er, weil der Ferrari aufgrund eines neuen Aerodynamikpakets endlich wieder mehr zu seinem Fahrstil passte. Vorher hatte er immer wieder Probleme mit einem zu nervösen Heck. Schumacher dagegen hatte im Jahr 2000 ein Auto, das Technikchef Ross Brawn ganz auf ihn getrimmt hatte. Die acht Siege gaben ihm recht.
Für Vettel spricht zudem: Er leistete auch politisch Widerstand. Als Ferrari in Sotschi von ihm verlangte, die am Start aus eigener Kraft gewonnene Führung an Leclerc zurückzugeben, weigerte Vettel sich so lange, bis die Scuderia den Platztausch beim Boxenstopp exerzieren musste. Auch wenn er später mit einer defekten Isolierung ausfiel, war die Message klar: Ich fahre nicht für Leclerc!
Allein: Einfach wird es auch 2020 nicht. Michael Schumachers Bruder Ralf (44) befürchtet: „Leclerc wird nicht schlechter werden. Er hat den Vorteil, dass er im Team mehr Unterstützung spürt. Das kann sich nur ändern, wenn das Auto weiter mehr zu Vettel passt. Ich glaube, dass Sebastian mehr das sogenannte Rundumwohlfühl-Paket braucht, um die maximale Leistung abrufen zu können.“
Für Michael Schumachers Ex-Teamkollegen Eddie Irvine (53) steht dagegen felsenfest: „Ferrari muss sich auf Leclerc konzentrieren. Vettel macht einfach zu viele Fehler. Ferrari nahm in dieser Saison zu viel Rücksicht auf ihn. Das kostete Leclerc manchen Sieg. Das darf in der nächsten Saison nicht mehr passieren. Dann muss Leclerc gegen Hamilton gesetzt werden, und Vettel muss die Nummer-zwei-Rolle übernehmen, die Bottas bei Mercedes hat.“
Der Deutsche, dessen Vertrag 2020 ausläuft, muss jetzt beweisen, dass Irvines Forderungen falsch sind.
Zahlen aus Vettels Saison:
101 Rennen hat Vettel nun für Ferrari absolviert. Vier Fahrer liegen da vor ihm: Schumi (180), Räikkönen (151), Massa (139) und Barrichello (102)
22 Rennen dauerte die Siegesdurststrecke, die beim Singapur-GP endete. Noch länger (27) wartete er von Singapur 2015 bis Australien 2017
14 Siege hat Vettel für Ferrari schon geholt, nur zwei absolute Legenden haben öfter mit Ferrari gewinnen: Schumi (72) und Niki Lauda (15)
11 Ausfälle hat Vettel seit seinem Ferrari-Debüt 2015 zu verzeichnen. Hamilton schied im gleichen Zeitraum nur elf Mal aus. 2019 musste Vettel zwei Mal aufgeben