Der ehemalige Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug im Exklusivinterview über Lewis Hamilton und Michael Schumacher, deutsche Talente und Mercedes in der Formel 1.
Herr Haug, Lewis Hamilton ist auf dem besten Wege, Michael Schumachers Rekord von 91 Siegen zu übertrumpfen – und auch bei WM-Titeln gleichzuziehen. Hätten Sie je gedacht, dass das mal jemand schaffen würde?
Norbert Haug: Dass Michaels bisher einmaliger Rekord jemals eingeholt oder gar überboten werden würde, war ewige Zeiten lang unvorstellbar. Aber wer ein bisschen aufgepasst hat, dem wurde spätestens vor zwei Jahren klar, dass Lewis auf dem allerbesten Weg ist, alle existierenden Formel-1-Rekorde zu überbieten. Eine so überlegene Umgebung und ein so konkurrenzloses Rennauto wie Lewis bei Mercedes vorfindet, hatte Michael allerdings nie. Was keinesfalls die grandiose Leistung dieses Mannes und Ausnahmefahrers schmälern soll, den ich vom Kart über die Formel Renault, die Formel 3, die GP2 bis in die Formel 1 begleitet, und dort dann seine erste Poleposition, seinen ersten Sieg beim GP Kanada 2007 und seine erste gewonnene Weltmeisterschaft 2008 miterlebt habe. Was Lewis an Konstanz und Können seit mittlerweile 14 Jahren in der Formel 1 aufführt, ist einfach einmalig und nie zuvor dagewesen. Und es wird nach meiner Einschätzung auch höchstwahrscheinlich niemals wiederkehrend sein.
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Inwiefern konnten Sie damals schon sehen, wie stark Lewis ist?
Lewis ist nicht als potentieller Weltmeister vom Himmel in das Kart gefallen. Er wuchs bekanntlich in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater Anthony ist der wichtigste Schmied und Eckpfeiler von Lewis‘ Erfolgsgeschichte. Ohne sein unermüdliches Arbeiten, um Geld für den Sport des Sohnes zu verdienen, hätte die erfolgreiche Basis niemals geschaffen werden können. Was Lewis natürlich weiß und wofür er seinem Vater ewig dankbar sein wird. Besonders war schon der junge Lewis, schon als er als 14-Jähriger unser Gast bei Mika Häkkinens Weltmeisterfeier im Stuttgarter Mercedes-Museum war.
Inwiefern?
Lewis war einfach höflich, gut erzogen, er stand natürlich nicht im Mittelpunkt, aber er war freudig und stolz dabei zu sein.
Wie schätzen Sie Max Verstappen im Vergleich zu Lewis ein?
Ganz sicher hat der ähnliches Potential und Können. In der Formel 1 gibt es nur sehr gute und sehr, sehr gute Fahrer. Lewis und Max gehören in die zweite Kategorie. Und – ironisch genug – wären in der aktuellen Formel 1-WM nur sehr gute Fahrer am Start, wären die Rennen womöglich spannender. So aber dreht sich meist fast alles um vier Reifen und zwei Fahrer.
Warum macht es für Mercedes Sinn, weiter mit einem Werksteam in der Formel 1 zu bleiben – oder auch nicht?
Sinnvoller als jenes von Mercedes-Benz war aus meiner Sicht noch nie eine Formel 1-Engagement, das der Formel 1-Tradtionsmarke Ferrari eingeschlossen. Mindestens drei Viertel der gesamten Zeit der Formel-1-Engagements der 50er, der 1990er und 2000er Jahre mit Partner McLaren fuhr Mercedes da, wo die Musik spielt. Also vorne und um Siege. In den 50er Jahren wurden mit den Silberpfeilen zwei Weltmeisterschaften gewonnen, mit McLaren waren es drei Fahrer- und ein Konstrukteurs-Titel, mit Partner Brawn GP 2009 ein Fahrertitel mit Jenson Button und die Konstrukteurs-Weltmeisterschaft. Verglichen mit allen anderen jemals in der Formel 1 aktiven Herstellern – Ferrari eingeschlossen – ist dies eine 1A-Bilanz und eine, die seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert am Stück anhält. Wobei die Silberpfeil-Dominanz der letzten Jahre natürlich alles je Dagewesene in den Schatten stellt.
Woran liegt das?
Neben den Fahrern und vor allem Lewis Hamilton ist es dem treffsichern Management von Toto Wolff, höchster Kompetenz der Technikmannschaft und bestem Teamplay aller Macher zuzuschreiben. Das Mercedes-Formel-1-Engagement war von Tag eins an extrem kostengünstig, weil Sponsoreinnahmen und Zahlungen des kommerzielle Rechteinhabers stets mindesten zwei Drittel sämtlicher Kosten abdeckten. Der Medienerfolg und weltweite Aufmerksamkeitswert war riesig und hätte mit keiner Werbekampagne der Welt je erreicht werden können. Anzeigen und Werbespots schalten und behaupten, er sei weltmeisterlich gut, kann jeder, der Millionen oder im Lauf der Jahre gar Milliarden ausgibt. Es aber auf der Rennstrecke beweisen und alle schlagen, kann nur der, der‘s kann. Der Gegenwert, den die Marke Mercedes-Benz durch sein Motorsport-Engagement in Gesamtheit erhielt, ist millionenfach höher als der getätigte finanzielle Einsatz, und das beste Beispiel dafür ist der grandiose Erfolg der Mercedes-Marke AMG und das Geld, das dort verdient wird und Arbeitsplätze sichert.
Was hat Michael Schumacher bei Ferrari besser gemacht als Sebastian Vettel?
Wer böse ist, wird sagen: alles. Aber das stimmt natürlich überhaupt nicht. So, wie es Mercedes geschafft hat, erstklassige Voraussetzungen für Siege und WM-Titel für Lewis Hamilton zu schaffen, hat es Ferrari versäumt, dies für Sebastian Vettel zu tun. Der letzte Ferrari-Titelgewinn – die Älteren unter uns erinnern sich – datiert von 2007. Und wären wir damals nicht doof genug gewesen, um Lewis Hamilton nicht rechtzeitig beim GP China an die Box zu holen, wäre er in der Boxeneinfahrt sicher nicht im Kiesbett gelandet und hätte den am Ende zum WM-Titel fehlenden einzigen Punkt auch im Schongang geholt. Vor 2007 gab es fünf Michael-Schumacher-Ferrari-Titel von 2000 bis 2004 in Folge, und davor 21 Jahre lang – seit 1979 und Jody Scheckter – gar nichts. Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass Ferrari außerhalb der Schumacher-Ära und nach der Niki-Lauda-Ära in den 70-er-Jahren nicht so wahnsinnig viel gerissen hat. Ich liebe und schätze Ferrari, aber keine Liebe und keine Wertschätzung kann Fakten aus der Welt schaffen.
Hätte Sebastian zu Ihrer Zeit bei Mercedes eine Chance gehabt?
Ich hatte mit Sebastian zu seiner Toro Rosso-Zeit verhandelt. Wer weiß, wie sich die Formel-1-Geschichte entwickelt hätte, wären wir uns damals einig geworden. Aber: In der Topliga der Formel 1 verhandelt jeder irgendwann mit jedem, und wer das nicht zugibt, behält es halt für sich. Aber stimmen tut es trotzdem.
Was würden Sie Vettel in der jetzigen Situation für die Zukunft empfehlen?
Spät bremsen, früh aufs Gas gehen und nicht aus der Kurve fliegen. Im Ernst: Sebastian muss unbedingt zeigen, dass er seinen schnellen und talentierten Teamkollegen Charles Leclerc im Griff hat oder ihm zumindest ebenbürtig ist. Wer regelmäßig vom Teamkollegen abgehängt wird, ist zweite Wahl in der Formel 1, was beileibe keine Erkenntnis von mir ist, sondern Gesetz der Branche.
Wie sehr freut es Sie, dass McLaren-Mercedes 2021 ein Comeback feiert?
Das freut mich sehr. Und ich würde mir auch wünschen, dass der mittlerweile ausgeschiedene Ron Dennis mehr Anerkennung findet, für all das, was er für die Formel 1 im Gesamten und McLaren im Besonderen geleistet hat. Wir hatten gemeinsame großartige und überwiegend erfolgreiche 15 Jahre und die McLaren-Mercedes-Silberpfeile mit Häkkinen, Coulthard und später Hamilton waren in dieser Zeit ein Qualitätsbegriff in der Formel 1. Ich würde mich sehr freuen, würde das wieder so werden. Und mit Andreas Seidl ist dort – seit es wieder aufwärts geht – ein Racer am Ruder, der weiß, wo die oberste Stufe des Podiums ist und wie man den Weg dorthin findet.
Kommen wir zur DTM: Audi und BMW steigen als Werksteams aus der DTM aus. Wie traurig sind Sie über das Ende der Prototypen in der Serie?
Das ist fürchterlich, wenn sicherlich für die Hersteller auch begründbar. Für den Motorsport im Gesamten, für alle Rahmenserien, für den Nachwuchs, der in der DTM immer ein Zuhause und motivierenden Übungsgrund fand. Ob Hamilton, Rosberg, Bottas, Vettel, Leclerc, Verstappen, Hülkenberg – sie alle fuhren im Rahmenprogramm der DTM, wie insgesamt rund zwei Drittel des aktuellen Formel-1-Feldes, und jeder dieser Herrschaften weiß , wo Oschersleben ist. Die Auftrittsbühne DTM war stets ein weltweit geschätztes Motorsportformat, das für Betrachter vor Ort oder in den Medien immer viel mehr zu bieten hatte als nur Brummbrumm. Die DTM war immer viel mehr als eine Rennserie. Sie war Qualitätsbegriff, reflektierte Geisteshaltung, auch Formel-1-Fahrer und -Vertreter schnalzten mit der Zunge, wenn sie voller Begeisterung und Bewunderung von der DTM sprachen. Traurig, aber wahr: Sollte man sie nicht mehr haben, wird man merken, was man an der DTM gehabt hat.
Inwiefern können Sie sich eine GT3-DTM vorstellen und wie wichtig wäre die für den deutschen Motorsport?
Zwei parallele GT3-Rennserien bei ADAC GT Masters und DTM würde ich nicht als zielführend einschätzen. Aber vielleicht gibt es ja Entwicklungen, die mir nicht bekannt sind.
Mick Schumacher kämpft in der Formel 2 um den Aufstieg in die Formel 1. Was trauen Sie ihm zu?
Sehr viel. Man sieht das nicht immer, aber Mick hat‘s. Er kann und wird es packen. Ich habe grandiose Moves und Manöver von ihm gesehen, der Knoten muss konstant aufgehen, bei seinem Team genauso wie bei ihm. Sein Team ist aktuell nicht der Mercedes der Formel 2, kann das aber werden.
Die Zeiten von sieben Deutschen in der Formel 1 sind vorbei. Was muss in Deutschland für den Nachwuchs getan werden?
Ohne passenden Übungsgrund – siehe oben – wird diese Aufgabe nicht leichter werden. Schlimmstenfalls gibt es im nächsten Jahr weder einen Deutschen in der Formel 1 noch eine DTM. Und das obwohl Sebastian Vettel wie Nico Hülkenberg mit richtigem Gerät und Team um Siege und womöglich Titel fahren könnten. Hätte mir jemand vor zehn Jahren diese drohende Entwicklung prognostiziert, hätte ich mir Sorgen um den Geisteszustand meines Gesprächspartners gemacht und zur Therapie geraten. Gut, dass es ein ADAC-Förderprogramm und die ADAC Stiftung Sport gibt. Denn ein Fahrer mit Hamilton-Potential und -Können würde Deutschland und der gesamten deutschen Automobilbranche ausgesprochen guttun.
Warum ist Förderung dabei so wichtig?
Den aktuellen Hamilton hat Mercedes vom Kart bis zur Formel 1 gefördert, und er belohnt die Marke seit fast anderthalb Jahrzehnten in der Formel 1 mannigfaltig. Der nächste Hamilton wird so wenig wie er Erste vom Himmel ins Kart fallen. Er muss gefunden und gefördert werden. Und noch lieber wäre mir, würde eine junge deutsche Frau mit Hamilton-Potential gefunden und gefördert werden. Eine, die in fünf, sechs Jahren den Besten der Formel 1 zeigt, wie man später bremst, früher aufs Gas geht und trotzdem nicht aus der Kurve fliegt.
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