Lewis Hamilton hat am Sonntag in Silverstone nicht nur irgendein Rennen gewonnen. Eine Analyse, warum der siebenmalige Weltmeister im Cockpit weinte.
Nach 945 Tagen des Wartens platzte es aus Lewis Hamilton heraus. Ein Champion, dessen Kompass seit früher Kindheit das Leben war, das ihn lehrte, dass nur Siege zählen, dass man kämpfen muss bis hin zur Selbstaufgabe, um sich in einer Welt voller Vorurteile durchzusetzen, konnte deshalb nicht anders als weinen.
Die Tränen waren echt, die Erleichterung nach über zwei Jahren ohne Sieg endlich wieder dort ganz oben zu stehen, wo er nach eigenem Selbstverständnis hingehört, ebenso. „Dieser Erfolg bedeutet mir so viel“, schluchzte der siebenmalige Champion auf der Ehrenrunde am Boxenfunk völlig losgelöst. Angekommen im Parc Fermée weinte er in den Armen seines Vaters, herzte seine Mutter und ließ sich mit dem Union Jack über der Schulter von den Fans feiern.
Ganz klar: Es war ein emotional intensiver Sieg von Hamilton bei seinem Heimrennen in Silverstone. Nicht nur, dass er Michael Schumacher mit seinem neunten Silverstone-Erfolg den Rekord der meisten Triumphe auf einer einzigen Strecke endgültig abgejagt hat; das Comeback ausgerechnet beim Heimrennen beendete vielmehr eine Durststrecke, die 2021 begann. In dem Jahr also, als Max Verstappen dem Dauer-Dominator die WM-Krone beim umstrittenen Finale in Abu Dhabi aus den Händen riss.
Seitdem fährt der Brite dem Platz an der Sonne hinterher. Und seitdem plagen ihn Selbstzweifel, wie er jetzt verrät: „Als ich 2022 zurückkam, dachte ich, dass ich darüber hinweg wäre. Aber ich war es nicht“, sagt der Mercedes-Star am Sonntag in England. „Es hat definitiv lange gedauert, um diese Art von Gefühl zu heilen. Ich musste hart an mir arbeiten, und versuche Tag für Tag, inneren Frieden zu finden.“
An diesen Sonntag in der Grafschaft Nottinghamshire dürfte er nah dran sein an seinem inneren Frieden. Vielleicht erlaubt der siebenmalige Champion, der einst von Sieg zu Sieg gerast ist und ein Dauer-Abonnement auf die oberste Stufe des Podiums und den WM-Pokal hatte, auch deshalb einen Blick in seine Seele seit der größten Niederlage seiner Karriere. Auch heute noch könne er nicht mit Bestimmtheit von sich behaupten, die Ereignisse von Abu Dhabi verkraftet zu haben, räumt er nach dem GP ein. Der Heilungsprozess ist noch nicht beendet: „Ich glaube, nur die Zeit wird es zeigen. Was ich sagen kann, ist, dass ich nicht aufgebe.“ Da ist er wieder, der Hinweis auf seinen Lebenskompass.
Fest steht: Am Tag eines seiner größten Siege zeigt sich Hamilton verletzlich wie selten zuvor. Er spricht offen über mentale Gesundheit und dass auch er gegen die dunklen Dämonen ankämpfen musste. Dass er trotz seiner mittlerweile 104 Siege im Rücken alles andere als sicher gewesen sei, das süße Gefühl des Erfolgs jemals wieder schmecken zu dürfen.
„Mit den Widrigkeiten, die wir als Team durchgemacht haben, und den persönlichen Herausforderungen, denen ich mich stellen musste, ist es manchmal schwierig, jeden Tag aufzustehen und sein Bestes zu geben“, berichtet Hamilton. „Deshalb war dieses Gefühl, als Erster über die Ziellinie zu fahren, einfach überwältigend. Ich habe noch nie nach einem Sieg geweint, aber es kam einfach aus mir heraus.“
Die Szenerie in der Pressekonferenz, die Offenheit des Rekordsiegers, die Tränen im Cockpit – sie zeigen, dass auch die einstige Siegmaschine Hamilton am Ende nur ein Mensch ist. Dass Spitzensportler genauso mit Zweifeln und Unsicherheiten zu kämpfen haben wie die Normalos unter der Gattung Mensch. Und sie lassen erahnen, dass der Wechsel zu Ferrari im kommenden Jahr vielleicht tatsächlich als Reaktion auf die Dominanz von Max Verstappen zu verstehen ist.
Es mag keine Flucht sein, aber der Versuch, in einem anderen Umfeld den gewissen Kick im Cockpit wieder erleben zu dürfen. Und vielmehr noch Gerechtigkeit zu erfahren. Während man ihm bei Mercedes keinen neuen Zweijahresvertrag mehr auf dem Silbertablett servieren wollte, erwies sich Ferrari als Möglichkeit zur Karriereverlängerung mit Superlativ-Potential und Streicheleinheit für die Psyche.
Doch ausgerechnet der vermeintliche rosarote Ausweg aus der Gedankenspirale hat das Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten zuletzt verstärkt. Denn natürlich stellt sich vor der Verpflichtung eines 39-Jährigen Rennfahrers durch das erfolgreichste und legendärste Formel-1-Team aller Zeiten, und vor allem mit den höchsten Ansprüchen auf Seiten der Fans und Medien, die Frage: Ist Hamilton noch gut genug?
Stand heute lässt sich die Frage wieder leicht mit einem Ja beantworten. „Jetzt ist alles wieder auf Null gestellt“, analysiert auch Sky-Experte Ralf Schumacher. „Das ist das Schöne an der Formel 1.“
Auf Hamilton dürfte der Sieg derweil wie ein Überdruckventil gewirkt haben, durch das sich die aufgestauten Gefühle Bahn gebrochen haben. Und gleichzeitig ist dem Mann, der dort mit schwarzem Mercedes-Shirt und Ferrari-roter Hose vor der versammelten Formel-1-Presse seinen Seelen-Striptease hingelegt hat, klargeworden: Das war sein letzter Mercedes-Sieg in Silverstone. Sein letztes ganz großes Highlight mit der Marke, für die er seit 13 Jahren in der Formel 1 antritt. Bei der er seinen Mentor Niki Lauda kennen- und vertrauen gelernt hat, dessen rote Kappe er im Geiste auch am Sonntag in Silverstone gezogen sieht.
„Nach allem, was in diesem Jahr passiert ist und zu wissen, es ist mein letztes Rennen hier mit diesem tollen Team; da gibt es keine bessere Art und Weise es zu beenden“, sagt Hamilton denn auch und macht sich erneut auf in Richtung seiner Fans. Später kursieren Videos von ihm beim Crowdsurfing. Der Engländer genießt seinen Sieg, als wäre es sein Letzter.
Selbst wenn er das war, es war womöglich sein Wichtigster. Weil er sich jetzt endgültig sicher sein, dass sein Kompass, das Leben, ihm am Ende doch die richtige Richtung zeigt.
FOLGT UNS AUF YOUTUBE!
Das ist F1-Insider.com
1. Lewis Hamilton (Großbritannien) – Mercedes 1:22:27,059 Std.
2. Max Verstappen (Niederlande) – Red Bull +1,465 Sek.
3. Lando Norris (Großbritannien) – McLaren +7,547
4. Oscar Piastri (Australien) – McLaren +12,429
5. Carlos Sainz Jr. (Spanien) – Ferrari +47,318
6. Nico Hülkenberg (Emmerich) – Haas +55,722
7. Lance Stroll (Kanada) – Aston Martin +56,569
8. Fernando Alonso (Spanien) – Aston Martin +1:03,577 Min.
9. Alexander Albon (Thailand) – Williams +1:08,387
10. Yuki Tsunoda (Japan) – Racing Bulls +1:19,303
1. Max Verstappen (Niederlande) – Red Bull 255 Pkt.
2. Lando Norris (Großbritannien) – McLaren 171
3. Charles Leclerc (Monaco) – Ferrari 150
4. Carlos Sainz Jr. (Spanien) – Ferrari 146
5. Oscar Piastri (Australien) – McLaren 124
6. Sergio Perez (Mexiko) – Red Bull 118
7. George Russell (Großbritannien) – Mercedes 111
8. Lewis Hamilton (Großbritannien) – Mercedes 110
9. Fernando Alonso (Spanien) – Aston Martin 45
10. Lance Stroll (Kanada) – Aston Martin 23
1. Red Bull 373 Pkt.
2. Ferrari 302
3. McLaren 295
4. Mercedes 221
5. Aston Martin 68
6. Racing Bulls 31
7. Haas 27
8. Alpine 9
9. Williams 4
10. Sauber 0