Nach der Panne am Kommandostand in Monaco will Mercedes in Kanada wieder eine Prise Menschenverstand zulassen. Eine Analyse.
Es sei keine Krisensitzung gewesen, betont man bei Mercedes. Stattdessen eine ganz normale Nachbesprechung der Ingenieure am Teamsitz in Brackley (GB). Die allerdings hatten am Dienstag vor einer Woche so viel zu diskutieren, dass sogar Mercedes-F1-Aufsichtsrat Niki Lauda an dem Meeting teilnahm…
„Wie zur Hölle konnte das passieren?“, hatte Teamchef Toto Wolff schon eine Stunde nach dem Rennen vor eineinhalb Wochen in Monaco gefragt, nachdem er sich für seine Presserunde zunächst unter dem Tisch verkriechen wollte. Die Peinlichkeit, die dem Österreicher die Schamesröte ins Gesicht trieb: Mercedes hatte Lewis Hamilton den sicheren Sieg gestohlen, weil sie ihn während einer Safetycar- Phase 13 Runden vor Rennende zu einem unnötigen Boxenstopp beordert hatten. Entgegen der Berechnungen kam Hamilton nicht vor, sondern hinter seinem Teamkollegen Nico Rosberg und sogar hinter Ferrari-Star Sebastian Vettel raus.
Mittlerweile weiß man bei Mercedes, warum der verhängnisvolle Funkbefehl von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Es war eine Mischung aus schlechter Kommunikation zwischen Fahrer und Kommandostand, einem falschen Algorithmus – so nennt man es heute, wenn die Computer verschiedene Strategievarianten berechnen – und zu wenig Vertrauen auf das eigene Bauchgefühl.
Problem 1: Lewis Hamilton hatte auf den Bildschirmen rund um die Strecke gesehen, wie sich die Mercedes-Crew sicherheitshalber für einen Boxenstopp bereit macht und schlussfolgerte, dass sein Teamkollege Rosberg auf die schnelleren Optionsreifen wechseln würde. Als er den Befehl bekam auch während der Safetycar-Phase auf der Strecke zu bleiben, gab er zu bedenken: „Seid Ihr sicher, dass es die beste Entscheidung ist draußen zu bleiben? Diese Reifen haben ihre Temperatur verloren. Alle anderen werden jetzt auf Options sein.“
Problem 2: Das gestörte GPS-Signal: In den Häuserschluchten von Monaco müssen sich die Teams anders als auf normalen Rennstrecken auf Induktionsschleifen im Boden der Piste verlassen, die die Position der Autos an den Kommandostand melden. Weil die aber nur im Abstand einiger hundert Meter in den Asphalt eingelassen sind, muss der Computer die tatsächliche Position der Autos hochrechnen. Deshalb konnten die Mercedes-Strategen nicht erkennen, dass Hamiltons Vorsprung auf Rosberg und Vettel längst viel kleiner war als ursprünglich angenommen. Die letzte offizielle Zeitnahme hatte einen Vorsprung von 25 Sekunden ausgewiesen.
Problem 3: Das Safetycar: Hamilton hätte nur ca. 12 Sekunden gebraucht, um unter Safetycar-Bedingungen vorne bleiben. Doch in Höhe der Tabac-Kurve zu Beginn des dritten Sektors war er auf das Safetycar aufgelaufen, dass das Feld einbremsen sollte. Rosberg und Vettel hinter ihm konnten weiterhin im Rahmen der Regeln eines virtuellen Safetycars Gas geben und ihren Rückstand so massiv verkürzen. Am Ende hatte sich der Kommandostand laut Mercedes deshalb um etwa drei bis vier Sekunden verrechnet. Toto Wolff: „Wir hatten eine Sekunde um auf Lewis’ Aussage zu reagieren und zusammen mit den falschen Timing-Daten machten wir den Fehler ihn reinzuholen.“
Problem 4: Mercedes absolvierte mit Hamilton einen Sicherheitsstopp. 25,4 Sekunden verbrachte der Brite zwischen Eingang und Ausgang der Boxengasse. Das waren 1,3 Sekunden mehr als bei seinem ersten Stopp unter Rennbedingungen. Hätte Mercedes ihn ähnlich schnell wie zuvor abgefertigt, wäre er zumindest vor Sebastian Vettel rausgekommen. So aber wurde es eine Zentimeter-Entscheidung. Vettel unkte: „Danke an meine Ingenieure für die lange Nase!“ Hintergrund: Während Mercedes und Red Bull mit einer Kurzversion der Fahrzeugfront fahren, reicht die Ferrari-Nase über den Frontflügel hinaus.
Damit so ein Fehler in Zukunft unter dem Druck von Ferrari nicht noch einmal passiert, hat Mercedes Konsequenzen gezogen. Strategie-Software und Kommunikation am Kommandostand sowie mit dem Fahrer sollen verbessert werden. „Außerdem werden wir wieder eine Prise gesunden Menschenverstand erlauben“, erklärt Toto Wolff. Hintergrund: In Monaco ist Überholen nahezu unmöglich. Mit ein wenig mehr Abstand von den Daten hätte dem Kommandostand klar sein müssen, dass Hamilton den Sieg selbst auf eiskalten Reifen nach Hause gefahren hätte. Wolff: „Die Balance zwischen Daten und Bauchgefühl muss wieder stimmen – insbesondere in Situationen wie der in Monaco.“