Wenn morgen der neue Mercedes für die neue Formel-1-Saison präsentiert wird, gibt es viele, die ihre Zeitmaschine zehn Jahre zurückfahren lassen. Damals war das Mercedes-Museum in Stuttgart-Untertürkheim bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Mitarbeiter hatten zuvor eine Woche lang die Zeitzeugen aus der sagenhaften Silberpfeil-Historie auf Hochglanz poliert. Carraciolas Rennwagen aus den 30ern, Fangios Auto aus den 50ern – sie alle sollten den schillernden Rahmen bilden zu dem, was jetzt kommen sollte.
Als der damalige Daimler-Chef Dieter Zetsche die Bühne betrat, wurde es schlagartig still. Stolz präsentierte Dr. Z., wie er von den Untergebenen in einer Mischung aus Respekt und Vertrautheit genannt wurde, das erste Mercedes-Werksteam seit 1955. Seinen Schnauzbart hatte der gebürtige Istanbuler noch mehr gestylt als sonst, um einen Satz zu prägen, der Mercedes genauso unter Druck setzen sollte wie Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer seinen Nachfolger Berti Vogts 1990. Damals verkündete der gerade abgetretene Teamchef der Nationalmannschaft inbrünstig überzeugt: „Durch die Wiedervereinigung wird Deutschland auf Jahre unschlagbar sein.“ Zetsches Vision für Mercedes lautete ähnlich: „Mercedes ist jetzt das deutsche Nationalteam in der Formel 1.“
Spielführer, Spielmacher und Tor- beziehungsweise Punktejäger sollte der Beckenbauer des Motorsports sein: Michael Schumacher. Den Rekordweltmeister hatte Zetsche mit Hilfe seines neuen Teamchefs Ross Brawnbeim letzten Rennen in Abu Dhabi 2009 (dort war Schumacher als feierfreudiger Gast von Ferrari vor Ort) überredet und vor allen Dingen überzeugt, sein Formel-1-Comeback bei Mercedes zu geben – bei der Marke, bei der 1990 als Junior seine einzigartige Karriere gestartet hatte. Bei der Marke, ohne die es den Mythos vom bodenständigen Rheinländer nie gegeben hätte.
Als Schumacher die Bühne betrat, waren alle Kameras auf ihn gerichtet, zeitweise blendeten ihn die Blitzlichter so stark, dass er mit verkniffenen Augen in der Menge nach bekannten Gesichtern suchte. Sein junger Teamkollege Nico Rosberg, ebenfalls Deutscher, stand im Schatten des erleuchteten Schumachers und wurde kaum wahrgenommen. Es war ein bedeutender Moment für den deutschen Motorsport und speziell für Mercedes. Denn das erste Mal hatte man den Eindruck, dass die zahlreichen Mercedes-Mitarbeiter – sonst durchaus kritisch dem Millionen verschlingenden Formel-1-Engagement des Konzerns gegenüber eingestellt –voller Stolz die Präsentation verfolgten, weil sie sich als Teil des Ganzen sahen.
Zehn Jahre später sind wir schlauer. Vom angekündigten Nationalteam blieb nicht viel übrig. Vor allen Dingen aber blieben in den drei Jahren, in denen Schumacher der Steuermann des Luxustankers war, die erwarteten Erfolge aus.
Im Dezember 2011 meldete sich Lewis Hamilton bei Mercedes. Der Brite fühlte sich immer noch mit Mercedes verbunden, trotz der Trennung von McLaren einJahr zuvor. Schon zu Kartzeiten hatte ihn Mercedes unterstützt, seinen WM-Titel 2008 führte der Brite nicht zuletzt darauf zurück, dass Mercedes den besten Motor in der Formel 1 baute und mit technischen Innovationen aus dem Konzern McLaren auch im Bereich des Autodesigns unter die Arme griff. Hamilton wünschte Frohe Weihnachten und fragte nebenbei nach seinen Chancen, 2013 bei Mercedes zu fahren. Er fühlte sich bei McLaren nicht mehr wohl, könne sich eine langfristige Partnerschaft mit seinem Mentor Ron Dennis nicht mehr vorstellen und suche eine neue Herausforderung.
Der damalige Motorsportchef Norbert Haug hatte die Situation sofort überrissen und informierte Dieter Zetsche. Für den Vorstandschef erschien Lewis Hamilton wie ein Weihnachtsgeschenk: Denn mit ihm, der unter den Experten als Garant für Siege galt, könnten der nervige Betriebsrat und der Aufsichtsrat wieder für die Formel 1 begeistert werden. In Hockenheim beim GP von Deutschland 2012, dem Heimrennen von Mercedes, fiel die Entscheidung endgültig für Hamilton und gegen Schumacher.
Dieter Zetsche verließ vor Fallen der Zielflagge missmutig das Motodrom. Einmal mehr war das Ergebnis enttäuschend. Michael Schumacher wurde nur Siebter. Rosberg nur Zehnter. Dazu kann: Schumacher hatte es versäumt, dem Konzern seine Pläne mitzuhalten. Er ließ immer noch offen, ob er weiterfahren oder seine Karriere beenden wollte.
Schumacher unterschätzte die brenzlige Situation – er war betriebsblind und merkte erst in Monza langsam, welche Gefahr von Hamilton ausging. Dabei hatte Hamilton Bernie Ecclestone bereits in Spa von seinen Plänen berichtet. In Singapur erfuhr es auch Michael Schumacher. Endgültig. Der Aufsichtsrat nickte die Vorschläge in einer Sitzung zwei Tage später ab. Danach konnte der Deal mit dem Briten bekannt gegeben werden. Michael Schumacher war raus.
Zehn Jahre später ist klar, dass Zetsches damalige Vision vom deutschen Nationalteam Geschichte ist. Mit den sechs WM-Titeln, von denen allein Hamilton fünf beisteuerte, identifizieren sich die meisten Daimler-Mitarbeiter kaum noch. Außer dem Stern, der immer noch auf den silbernen Autos prangt, gebe es nichts mehr, was an die Wurzeln erinnere, hört man in den Fluren des Stammwerks immer wieder.
Die Fabrik steht in England, kein Fahrer kommt aus Deutschland. Selbst das schwäbische Schlachtross Norbert Haug, das zwei Jahrzehnte lang Gesicht des Motorsportengagements war und so den entsprechenden Stallgeruch vermittelte, wurde vom Österreicher Toto Wolff ersetzt. Der vermittelt das Gegenteil von Haug: Internationalität, aalglatte Gewandtheit und – besonders im eigenen Sinne – ehrgeizigen Geschäftssinn. Als Identifikationsfigur für die hemdsärmeligen Daimler-Arbeiter, die den Konzern einst groß machten, eignet er sich nicht. Trotz seiner Erfolge.
Wolff gilt neben dem im Mai vergangenen Jahres verstorbenen Niki Lauda, der in Folge der Schumacher-und Haug-Entsorgung als Berater mit ins Boot geholt wurde, als Vater der sechs WM-Titel in Folge. An Schumacher denkt keiner mehr. Außer einem: Ross Brawn.
Der Brite, der als Technikchef Schumachers fünf WM-Titel mit Ferrari verantwortete, Schumacher zu Mercedes zurückholte und später wie Haug ebenfalls der Palastrevolution um Wolff und Lauda zum Opfer fiel, ist überzeugt: „Michael hat großen Anteil am Erfolg. Einen sehr großen sogar. Seine ständigen bis ins Detail gehenden Fragen an alle Ingenieure gaben allen die Antworteten, die sie später brauchten, um in die Erfolgsspur zu kommen. Er wies allen den Weg, den man zum Gipfel gehen musste.“