Sebastian Vettel gedenkt mit rührenden Worten dem verstorbenen Rennleiter Charlie Whiting. Die ganze Rede des Ferrari-Stars hier zum Nachlesen:
Was uns auf Sebastian Vettel (32) stolz machen sollte, sind nicht nur seine Leistungen auf der Rennstrecke. Vielmehr ist es der große Charakter, der im Innern des jungen Mannes schlummert. Schlummert deswegen, weil er sein wahres Ich schützt. Sein Privatleben ist ihm heilig. Dieser Gegensatz fasziniert. So aggressiv er oft als Champion im Formel-1-Auto auf der Strecke unter dem Brennglas der Öffentlichkeit agiert, so bewusst schützt er sein Privatleben.
Die meisten Kollegen in der Formel 1 nutzen auch ihre Auftritte neben der Rennstrecke, um intensiv an ihrem Superstar-Image zu feilen. Ein mediengerechter Auftritt im roten Ferrarivor einem Restaurant in Los Angeles, wie ihn Lewis Hamilton in der Woche vor dem Großen Preis von England regelrecht zelebrierte – für Vettel ist das ein absolutes No Go. Sein Motto: Der Vettel fährt die Rennen, doch den Sebastian und seine Familie, den versteckt er scheu wie ein Reh mit ihren Kitzen, das am liebsten im schützenden Wald bleibt.
Große Bühne: Zur Trauerfeier kamen viele GästeEs gibt aber Momente im Leben des jungen Sympaths aus Hessen, da kann auch er nicht verhindern, dass sein wahres Ich für alle zugänglich wird. Seine Intelligenz, seine Sensibilität, sein großes Herz. Am Donnerstagabend in Silverstone war so ein Moment.
Grund: Der vierfache Weltmeister sollte im Namen aller Formel-1-Piloten eine Dankesrede für Charlie Whiting halten, der im März im Alter von 66 Jahren überraschend während des GPs in Melbourne verstorben war. Die Vereinigung der britischen Rennfahrer hatte rund 200 Gäste zu der Feier in ihrem Klub-Haus direkt auf der Strecke geladen, um den langjährigen Rennleiter der Königsklasse posthum zu Ehren.
Vettel nahm die Angelegenheit ernst. Sehr ernst. Der Heppenheimer, der es in der Schule es eher hasste, Texte zu verfassen, ging zuhause in sich, feilte stundenlang an der Rede. Er wollte es alleine machen, ohne Hilfe, das sollte seine Ehrerweisung an Whiting sein. Gekleidet mit einem schwarzen Hemd betrat er das Rednerpult und las von seinem Manuskript ab, das er auf englisch verfasst hatte. Langsam, betont, ernsthaft, ohne in eine theatralische Trauer zu verfallen. Seine Worte trafen die anwesende Formel-1-Gemeinde mitten ins Herz und rührten de Familienmitglieder von Whiting zu Tränen.
Vettel war der Gewinner des britischen Großen Preises, unabhängig vom Ergebnis. Aber ein Gewinner wider Willen. Denn eigentlich wollte Sebastian, dass seine Rede privat blieb, innerhalb der „Formel-1-Familie“. Doch die Formel-1-Vermarkter stellten seine Rede als Video öffentlich ins Netz. Als ich Sebastian drauf ansprach, zuckte er fast schon desillusioniert nur mit den Schultern. Er hatte mir die Rede zum Lesen gegeben. Sie sollte nicht öffentlich werden. Ich hätte mich daran gehalten. Logisch! Die Veröffentlichung aber hat meine Einstellung geändert.
Jetzt bekommt Vettel die Anerkennung, die Sebastian nicht wollte: Weil jeder sehen soll, was für ein großartiger Mensch sich hinter der Fassade des scheuen Rennfahrers verbirgt. Deshalb hier die Rede sinngemäß ins Deutsche übersetzt:
„Lieber Charlie,im Motorsport ist für uns die Stoppuhr bedeutend. Die Zeit ist bedeutend. Die jagen wir regelrecht. Wir werden zu Experten der Zeitenjagd. Manchmal erscheint es, als könnten wir die Zeit besiegen. Als könnten wir sie für einen Moment anhalten, um sie dann wieder loszulassen. Wir fahren weiter im Kreis – um sie wieder zu jagen, die Zeit. Wir vergessen die Welt um uns herum – wir fühlen uns frei dabei. Für uns ist es die höchste Erfahrung, die wir erleben können.Aber die ewige Jagd hat seinen Preis. Doch das Risiko, das wir dabei eingehen, ist es wert, um dieses Gefühl zu erleben. Die Formel 1 ist die Königsdisziplin des Motorsports. Mit keinem anderen Auto kann man schneller die Zeit jagen.
Aber die Formel 1 ist auch wegen Dir die Königsdisziplin des Motorsports. Du hast die Jagd nach der Zeit für uns alle sicherer gemacht. Wir glauben fest daran, dass es heute sicherer ist, in unsere Rennwagen zu steigen als in jedes andere Auto. Wir nennen sie ‚unsere Autos‘, aber es sind genauso Deine Autos.Dich als unser Schutzengel zu bezeichnen, käme Dir nicht gerecht. Denn Schutzengel treten nur ab und zu mal auf. Du warst ständig da, immer, wenn wir auf die Strecke gingen.Du bist deshalb heute immer noch ein großer Teil unseres Leben, mehr sogar als wir wissen können, mehr sogar als wir erklären können, und mehr als wir es uns vorstellen können.Deine Maßnahmen, Deine Ideen, Deine Liebe für unseren Sport haben extrem geholfen und werden auch weiterhin helfen, Leben zu retten.
Dein Einfluss war so immens, dass einfach Danke zu sagen nicht ausreichend wäre.Die Duftmarken, die Du auf der Strecke hinterlassen hast, liegen jenseits aller Rundenzeiten.Dein Stil war dabei so ausbalanciert, dass man den Eindruck hatte, Du hast die perfekte Abstimmung gefunden.Im Namen aller aktuellen Fahrer und aller Fahrer, mit denen Du gearbeitet hast, wollen wir am Ende sagen:
Du warst ein echter Racer
Du warst unser Renndirektor
Du warst unser Leibwächter
Du warst unser Freund
Du wirst immer bei uns sein, weil man lebt, solange die Erinnerungen leben.
*Dieser Artikel ist als Erstes in AUTO BILD MOTORSPORT (ABMS) erschienen.