Ferrari zieht nun also durch, was sie schon am Abend des Großen Preises von Kanada angekündigt haben: Die Scuderia geht offiziell gegen die Vettel-Strafe von Montreal vor, fordert eine Revision durch die Stewards.
Laut Artikel 14.1.1 des internationalen Sporting Codes ist das erlaubt, wenn neue Beweise vorliegen. Fast eineinhalb Wochen hat Ferrari genau darauf hingearbeitet. Sportdirektor Laurent Mekies hat alle Daten und Fakten zusammengetragen. Der Franzose ist prädestiniert für diese Aufgabe, immerhin hat er für den Automobilweltverband gearbeitet, bevor er zu den Roten wechselte.
An der Argumentation will uns Ferrari nicht teilhaben lassen. Viel zu sensibel sei der Fall, heißt es aus dem Team.
Basis ist Artikel 27.3 des Sportlichen Reglements. Der besagt: „Ein Fahrer gilt als außerhalb der Strecke, wenn kein Teil des Autos sie mehr berührt. Jegliche weiße Linien, die die Strecke definieren, gelten als Teil von ihr, Randsteine jedoch nicht. Sollte ein Auto die Strecke verlassen, darf der Fahrer wieder auf sie zurückkommen, jedoch nur, wenn es sicher ist und ohne einen anhaltenden Vorteil davon zu haben.“
Ferraris logische Erklärungskette: Vettel hat auf dem Gras verlangsamt, ist somit nicht mit vollem Tempo zurück auf die Ideallinie gefahren. Dort hat er Hamilton keineswegs entscheidend abgedrängt, sondern dem Mercedes-Piloten bis zur Mauer bei genauerem Hinsehen tatsächlich eine Wagenbreite Platz gelassen.
Ein Blick in den rechten Außenspiegel könnte sogar als Zeichen gewertet werden, dass Vettel einen Crash verhindern wollte – und damit ab dem Moment, wo er die Kontrolle zurückerlangte, alles andere als unsicher gehandelt hat. Dazu kommt: In der Runde zuvor fuhr er eine ähnliche Linie an der Mauer entlang, hat Hamilton damit also keineswegs überrascht.
Noch ein Argument: Der Ferrari-Star konnte gar nicht NICHT auf die Strecke zurückkommen. Dafür war sein Tempo eingangs der Schikane zu hoch, die Kontrolle während der Fahrt auf dem Gras zu gering. Einen Vorteil hatte er trotzdem nicht, immerhin lag er auch vor dem Manöver in Führung. Im Gegenteil: Vettel hat durch den Fehler sogar signifikant an Vorsprung eingebüßt.
All das will Ferrari anhand von Telemetrie- und GPS-Daten erklären. Und noch ein Beweismittel kommt hinzu: Sebastian Vettel selbst. Der Fahrer nämlich konnte während des Rennens nicht angehört werden. Ein entscheidender Fehler, glaubt man bei Ferrari.
Ein Blick in den rechten Außenspiegel soll sogar als Zeichen gewertet werden, dass Vettel einen Crash verhindern wollte – und damit ab dem Moment, wo er die Kontrolle zurückerlangte, alles andere als unsicher gehandelt hat. Dazu kommt: In der Runde zuvor fuhr er eine Linie viel näher an der Mauer entlang, hat Hamilton also keineswegs mit einer unsicheren Linie überrascht.
Ein Blick in den rechten Außenspiegel könnte sogar als Zeichen gewertet werden, dass Vettel einen Crash verhindern wollte – und damit alles andere als unkontrolliert gehandelt hat.
Ferrari hat also getan, was sie tun mussten. Auch um sich loyal hinter Sebastian Vettel zu stellen und ihn kompromisslos zu stützen. Mattia Binotto kämpft für den Hessen so wie es Jean Todt früher für Michael Schumacher getan hat. Das ist zumindest ein Zeichen des Zusammenhalts in Maranello.
Was dabei rauskommt, obliegt den Stewards aus Kanada. Sie müssen die neuen Beweise laut Artikel 14.1.1 bewerten und können autark über ihre Vorgehensweise entscheiden. Das Ganze soll per Video- oder Telefonkonferenz stattfinden.
Worauf Ferrari dabei spekuliert: Dass die Rennkommissare das große Ganze im Blick haben. Lange nicht mehr haben die Fans der Formel 1 so einstimmig ihre Meinung kundgetan wie im Fall Vettel. Selbst die Piloten unterstützen den Heppenheimer in ihrer Argumentation. Das Motto, das die meisten Meinungen gezielt zusammenfasst: #LetThemRace.
Lasst sie Rennen fahren!
Die Revision des Falls Vettel wird deshalb wegweisend für die gesamte Formel 1. Verfängt sich die Königsklasse in einem immer enger werdenden Korsett voller Regeln oder dürfen die Fahrer als mündige Piloten im Duell mit harten Bandagen gegeneinander fahren.
Ist ein kleiner Fehler wie der von Vettel ein Anlass, um den Sieg zu verlieren, obwohl der Gegner das Missgeschick selbst nicht ausnutzen konnte? Oder werden Zweikämpfe auf der Strecke über-reguliert — und die Fans somit abgeschreckt?
Sicherheit geht vor. Aber Formel 1 ist eine Show, in der das Publikum die Fahrer gegeneinander kämpfen sehen will. Siege am grünen Tisch oder durch fragwürdige Zeitstrafen schaden dem Image der Königsklasse.
Deshalb haben die Stewards eine größere Aufgabe, als nur über eine angeblich misslungene Rückfahrt auf die Strecke zu befinden. Sie müssen ein Zeichen setzen für die Zukunft der Formel 1.
Dieser Artikel ist zuerst auf autobild.de/motorsport erschienen –
Bianca Garloff: @bgarloff