Die Gegenwart bremst im Motorsport gerade die drängenden Zukunftsfragen aus. Das Corona-Virus zwingt die Bosse der unterschiedlichen Serien, zweigleisig zu agieren. „Wir müssen erst mal die nächsten Monate über die Runden kommen“, sagt zum Beispiel DTM-Chef Gerhard Berger (60) zu F1-Insider.com, „um dann umso mehr für die Zeit nach Corona gewappnet zu sein.“
Wann der Motorsport, der wie alle anderen Sportarten auch von COVID-19 lahmgelegt wurde, zum Tagesgeschäft übergehen kann, ist nicht sicher. Berger: „Es ist nur meine persönliche Meinung: Ich glaube aber nicht, dass wir vor August oder sogar September irgendwelche Rennen sehen werden. Auch nicht in der Formel 1.“
Dort wurden alle Rennen bis Mitte Juni abgesagt oder verschoben.
Berger, der in der Formel 1 für ATS, Arrows, Benetton, McLaren und Ferrari zu zehn Grand-Prix-Siegen fuhr, muss durch die Ausgangssperre in Österreich derzeit von seinem Büro in Wörgl aus arbeiten. Die Probleme der Gegenwart lassen sich dabei leichter lösen als DIE große Zukunftsfrage:
Stirbt der Motorsport, so wie wir ihn kennen?
Die großen Hersteller ziehen sich immer weiter aus traditionellen Serien zurück. Dadurch sinkt auch das Interesse der Fans und Sponsoren. Im Fokus stehen keine PS-Monster mit Verbrennungsmotoren mehr, sondern Antriebe mit alternativen Energien. Mit dem Start in die Saison 2020 könnte das letzte Jahrzehnt anbrechen, in dem es im Motorsport noch laut brummt – und nicht zunehmend leise surrt.
Ist der Motorsport in einer Krise, weil nicht mehr zeitgemäß? „Nein“, sagt Berger, „aber der Motorsport hat sich verändert und darf nicht ignorant sein. Auch wenn ich immer noch ein Fan der alten V12-Motoren bin, sind sie leider nicht mehr zeitgemäß. Die Zukunft gehört den Hybrid- und Elektromotoren.“
Die Gesellschaft denkt und lebt immer grüner. Auch der ehemalige Ferrari-Star reagiert darauf. Für 2022 peilt die DTM die Einführung von Hybridmotoren an, die rund 780 PS leisten. Ab 2025 könnte auch die beliebteste Tourenwagenserie der Welt rein elektrisch fahren. Eine Studie existiert bereits. Sie soll so schnell wie möglich umgesetzt werden.
Über allem aber steht Bergers Credo – und das gilt für den gesamten Motorsport: „Rennautos müssen Bestien sein, die nur von den besten Piloten der Welt gezähmt werden können. Das wollen die Fans sehen. Sie wollen Helden haben, die Dinge können, zu denen sie selbst nicht fähig sind.“
Deshalb sollen die reinen E-Autos bis zu 1000 PS haben und bis zu 350 km/h schnell sein. Die Elektro-Maschinen werden entweder von einer Batterie oder von einer Brennstoffzelle versorgt, die Wasserstoff in elektrische Energie umsetzt.
Bergers DTM-Vision: „Die Hersteller könnten dann ihre Karosserie überstülpen und den Fahrzeugen ein Markengesicht geben. Sie könnten die Autos auf der Rennstrecke präsentieren, die sie auch verkaufen wollen.“ Das sei bei der Formel E nicht der Fall. Gut möglich, dass dann auch Mercedes die DTM neben der Formel 1 wieder als Marketing-Plattform sieht.
Fest steht: Der Motorsport braucht jetzt Visionäre!
Einer ist Formel-E-Erfinder Alejandro Agag (49). Der Spanier stieß 2014 in eine Lücke und rief die erste rein elektrische Rennserie ins Leben. Was anfangs als „Spielplatz für Elektro-Nerds“ (Formel-E-Pilot Daniel Abt; d. Red.) verschrien war, ist mittlerweile zur ernsthaften Rennsport-Kategorie avanciert. Agag blickt stolz auf neun Hersteller in seiner Serie – darunter die vier großen deutschen: Mercedes, BMW, Audi und Porsche. Mit der Extreme E will er ab 2021 mit Elektro-Geländewagen an Orten rasen, die vom Klimawandel besonders betroffen sind wie die Arktis oder der Amazonas-Regenwald.
„Meiner Meinung nach ist das, was Greta Thunberg und auch andere Aktivisten machen, sehr wichtig“, sagt er. „Denn diese Menschen haben das Zeug dazu, die Welt aufzuwecken. Aber das alleine reicht nicht. Es braucht auch die Geschäftsleute und die Macher. Wir sorgen dafür, dass sich etwas ändert.“
Was Agag in der Formel E richtig macht: Er hat ihr den grünen Stempel aufgedrückt und die Kosten vergleichsweise gering gehalten. Bei 20 bis 30 Millionen Euro im Jahr – auch dank Einheitschassis – tun sich die Automobilhersteller leicht mit einem Einstieg.
„Die Zeiten, in denen horrende Summen für Motorsport ausgegeben werden, sind in meinen Augen vorbei“, erklärt auch BMW-Motorsportchef Jens Marquardt. „Aber Motorsport bleibt wichtig. Die Formel E ist ein Paradebeispiel. Für uns ist das ein Innovations- und Technologielabor.“
Bei der Formel 1 legt der ehemalige Toyota-Teammanager dagegen den Finger in die Wunde: „Wenn ich höre, dass ein Formel-1-Team heute 2000 Leute für zwei Autos hat, dann kann ich mir vorstellen, wie viel Geld das alles kostet. Auch wenn da Gegenwert zurückkommt, hast du erst mal Kosten, und die sind in astronomischen Höhen. So etwas kann man guten Gewissens nicht mehr rechtfertigen.“
Allein: Die Formel 1 ist motorentechnisch längst zukunftweisend. Das sieht zumindest Red-Bull-Chefberater Helmut Marko (76) so. Er sagt zu F1-Insider.com: „Wir fahren schon seit 2014 mit Hybridmotoren. Das zeigt, dass die Formel 1 ihrer Zeit schon voraus war. Denn reine Elektroautos sind meiner Meinung nach nur stadttauglich. Wer längere Strecken fahren will, braucht einen Hybridantrieb, der Benzin- und Elektromotoren verbinden kann.“ Ab 2022 soll Biosprit der Formel 1 endgültig einen nachhaltigen Touch verleihen.
Marko zweifelt nicht daran, dass die automobile Königsklasse nicht nur die Corona-Krise bewältigt, sondern auch gut gerüstet in die Zukunft schauen kann. Trotzdem mahnt er: „Besonders die kleineren Teams müssen die rennfreie Zeit jetzt überstehen. Denn weniger Rennen bedeuten auch weniger Einnahmen. Die geringeren Reisekosten, die durch Absagen entstehen, können diesen Verlust nicht decken. Eine Möglichkeit wäre, ähnlich wie bei der DTM, zwei Rennen an einem Wochenende zu fahren, wenn es wieder möglich ist. In schweren Zeiten wie diesen muss man flexibel sein.“
Markos Hinweis auf die kleinen Teams zeigt: Die Formel 1 muss noch mehr auf die Kostenbremse treten. Eine Budgetgrenze von rund 160 Millionen Euro, wie sie ab 2021 gelten soll, reicht nicht, wenn auch Privatmannschaften konkurrenzfähig und die Rennen damit wieder spannender werden sollen.
Stirbt sonst der Motorsport, wie wir ihn kennen?
Die wohl treffendste Antwort auf die Frage, ob die Formel 1 oder andere Rennserien überhaupt noch eine Berechtigung haben, gibt Ex-Formel-1-Boss Bernie Ecclestone (89). F1-Insider.com erreichte ihn beim Frühstück auf seiner Kaffeeplantage in der Nähe von São Paulo, wo er fasziniert seine Hühner beobachtete, die allerlei Spektakel veranstalteten. Ecclestone: „War die Mondlandung notwendig? Machte sie die Hungernden satt? Nein! Aber trotzdem war die Menschheit fasziniert. Menschen brauchen Helden. Rennfahrer, speziell Formel-1-Piloten, sind in gewisser Weise Astronauten, zu denen man voller Bewunderung hinaufschaut. Ayrton Senna ist das beste Beispiel. Selbst den Ärmsten in Brasilien brachte er Licht und Lebensmut in ihren finsteren Tunnel des Daseins.“
Man sollte sich nur daran gewöhnen, dass es in Zukunft weniger brummt als in den letzten 100 Jahren.