Hinter der Skandalnudel Kimi Raikkönen verbirgt sich in Wahrheit ein hochintelligenter und sensibler junger Mann. Dass er jetzt 40 ist interessiert alle, nur einen nicht – ihn
Am Wochenende in Mexiko werden ihm wieder mal alle Fragen auf die Nerven gehen. Besonders die eine. Die nach seinem Alter. „Ich werde das erste Mal in meinem Leben als Vierzigjähriger in ein Formel-1-Auto steigen. Sonst ändert sich ein Scheiß.“ Das könnte Kimi Räikkönens (40) typische ironische Reaktion sein auf Glückwünsche und sonstige Interessensbekundungen nach seiner Person und seinem Wohlbefinden.
Das alles sieht er als sinnlose Zeitverschwendung. Dann wird er mit todernster Miene ohne eine Regung zu zeigen so lange die Fragesteller anschauen, bis diese eingeschüchtert einknicken und ihn in Ruhe lassen. Und dann wissen alle mal wieder. Der „Iceman“ ist wirklich so cool wie er tut. Die Fans weltweit lieben ihn dafür. Er ist ihr tapferere Krieger in einer Welt, in der eins nur ganz selten vorkommt: Dass einer sagt, was er denkt. Räikkönen tut es.
Fest steht: Er steht zu den Dingen er macht. Zu seiner Frau, zu seinen beiden Kindern, denen er ein liebevoller Vater ist. Aber auch zu dem anderen Wesen, das ihn ihm schlummert. Ein Tier, das tief aus den finnischen Wäldern stammt und das er öfter einfach mal frei lässt.
Gerne wird dann über das Tier berichtet, das raubtiermäßig seine Spuren hinterlässt. Räikkönen fiel schon betrunken und kopfüber vom Oberdeck aufs Unterdeck einer Yacht im Hafen von Helsinki. Er randalierte in einem Nachtclub in London und zog seinen „kleinen Kimi“ blank. Er schlief zugedrönt auf einem Bürgersteig in Gran Canaria ein – mit einem rosa Gummielefanten als Kopfkissen. Mercedes-Mitarbeiter im Urlaub fanden ihn und riefen in der Konzernzentrale in Stuttgart an: „Ich glaube, wir haben gerade Ihren Formel-1-Piloten gefunden.“
Und noch ein kleines Schmankerl, das bisher noch nicht an die Öffentlichkeit drang. Seinen Landsmann und Formel-1-Kollegen Heikki Kovalainen soll Freigeist Raikkönen angeblich mal zum Partnertausch aufgefordert haben. Der soll dann panikmäßig mit seiner Freundin Katy die Flucht ergriffen haben.
Wer Kimi kennt, der weiß aber, dass der feierfreudige Punk nur ein Teil seiner Persönlichkeit ist. Der weiß, dass Raikkönen nicht immer schweigt, sondern seine Mundfaulheit nur seine ganz spezielle Art der F1-Welt mit ihrem ganzen Glitter und Tamtam zu sagen: „Kiss my ass!“
In der Schweiz wurde der „Iceman“ einmal redselig und ihm wurde ganz warm ums Herz. Es war kalt, irgendwann im Winter 2003. Kimi Räikkönen war bei einem Schweizer Züchter von Schäferhunden in der Nähe des Bodensees. Stundenlang spielte er zärtlich mit den acht Wochen alten Welpen rum, fotografierte sie, schickte die Bilder sofort zu seiner damaligen Ehefrau Ehefrau Jenny. Er entschied sich schließlich für Ajax, der ihm als erster in die Arme sprang. An diesem Tag legte Kimi Raikkönen seine Maske des „Icemans“ ab – er zeigte sein zweites Gesicht.
Das interessiert Raikkönen aber alles nicht. Er stellt klar: „Jeder hat Emotionen. Aber jeder geht auch anders damit um. Wenn ich fahre, bin ich hochkonzentriert, Emotionen sind da fehl am Platz. Dafür hat man doch gar keine Zeit. Man muss oft schneller reagieren, als man fühlen kann. Ein Formel-1-Fahrer analysiert meistens erst bestimmte Situationen, wenn sie schon längst vorüber sind. Die Reflexe und Instinkte müssen stimmen. Dazu kommt, dass ich kein Typ bin, der gerne zeigt, was in einem vorgeht.“
Deshalb würde er nie erzählen, dass seine leise Piepsstimme von einem Fahrradunfall aus seiner Kindheit rührt. Kimi war fünf Jahre alt, als er von den Pedalen abrutschte und mit dem Hals auf die Gabel knallte. Von der schweren Quetschung haben sich seine Stimmbänder nie ganz erholt.
Räikkönen redete schon als Kind so wenig, dass seine Eltern ihn sorgenvoll zum Kindertherapeuten schickten. Der sandte Kimi schon nach einem halben Tag wieder nach Hause. Mit einem Brief dabei. „Ihr Sohn ist überdurchschnittlich intelligent. Dass könnte der Grund sein, warum er es vorzieht, zu schweigen.“ Ein schwierige Koordinationsübung, für das Erwachsene durchschnittliche drei Stunden brauchten, hatte der Sechsjährige in zwanzig Minuten gelöst.
Es gibt nur wenige, die Räikkönen an sich ranlässt. Bei denen er ist, wie er wirklich ist. Dazu gehörte der mittlerweile verstorbene finnische McLaren-Arzt Aki Hintsa. Hintsa sagte schon zu den wilden McLaren-Zeiten über seinen Landsmann: „Kimi ist ein sehr sensibler Mensch, der nur im Auto keine Gefühle zeigt.“
Ein Experiment bestätigte das einmal: Bei einem Rennen statteten Mediziner Raikkönen mit Messelektroden aus. Das Ergebnis: Räikkönens Puls schnellte nicht mal in Situationen in die Höhe, die selbst gestandenen Piloten den Schweiß in den Nacken getrieben hätten. Nicht bei gefährlichen Überholmanövern. Nicht einmal, wenn es kracht.
Für seinen ehemaligen Teamchef Peter Sauber ist der Finne der nervenstärkste Pilot, den er je erlebt hat. „Er hätte fast sein erstes Formel-1-Rennen in Australien 2001 verschlafen“, erinnert er sich. Fitnesstrainer Josef Leberer, damals für Räikkönen zuständig, erzählt: „Kimi lag auf einer Kiste in der Box und schlief. Als ich ihn 40 Minuten vor dem Start wachmachen wollte, damit er sich für den Start vorbereiten konnte, drehte er sich einfach um und murmelte: „Gib mir noch fünf Minuten. Er schlief einfach weiter.“
Im Rennen holte er dann als Sechster seinen ersten WM-Punkt. Als Peter Sauber ihm gratulieren wollte, winkte Räikkönen nur ab. „Habe ich etwa gewonnen. Wozu also die Gratulation.“ Sauber war völlig perplex.
Auch Ex-Formel-1-Pilot Gerhard Berger ist ein Fan des Finnen. Der heutige DTM-Chef sagt im Spaß: „Zu Red Bull würde Kimi am besten passen. Er könnte feiern, so oft er wollte. Denn selbst mit Kater ist Kimi immer noch schneller als die meisten anderen topfit. Aber im Ernst: Ich glaube nicht, dass Kimis Aktivitäten neben der Strecke ihn bisher auch nur eine Hundertstel langsamer gemacht haben.“
Und wohl auch nicht älter. Ein Ende seiner Laufbahn ist noch nicht abzusehen.
*Dieser Artikel ist als Erstes in AUTO BILD MOTORSPORT (ABMS) erschienen.