Das Einzige, was sich für Alpha-Tauri-Teamchef Franz Tost (64) nicht geändert hat, seit das winzige Corona-Virus sich unbarmherzig in Körper und Seele eines ganzen Landes geschlichen hat: Er steht immer noch um sechs Uhr am Morgen auf. Dann macht er sich seinen Kaffee und denkt über den Tag nach, der vor ihm liegt.
Tost bewohnt mit seiner Frau ein Haus in Faenza, in der Nähe der Formel-1-Fabrik, in der früher die Minardi-Rennautos gebaut wurden, bevor Red Bull Ende 2005 das kleine Team kaufte, um daraus seine Junior-Mannschaft Toro Rosso zu machen.
Erst in diesem Jahr wurde Toro Rosso in Alpha Tauri umbenannt, um Red Bulls Modemarke Alpha Tauri einen kräftigen Bekanntheitsschub zu geben.
Faenza ist von Motorsportkult umgeben. Fast kann Tost auf den Kurs in Imola schauen, der vor den Toren Faenzas liegt. Die Metropole Bologna ist 40 Kilometer entfernt, Modena und die Ferrari-Fabrik in Maranello circa 60.
Die Gegend erinnert ein wenig an die Toskana, mit saftigen Hügeln, deren Grün von der Sonne in ein mystisches Licht getaucht wird, wenn der Morgentau die Strahlen widerspiegelt. Beim richtigen Wind kann man das Gras riechen. Schon früh am Morgen waren in Faenza und Bologna die unzähligen kleinen Cafeterias voll. Die älteren Bewohner trafen sich gewöhnlich auf ein Croissant und einen Espresso, jeder zweite hatte die rosafarbene Gazzetta dello Sport unter den Arm geklemmt.
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Die jüngeren fuhren mit ihren Rollern vor. Alle philosophierten über Calcio, Formula Uno und ihr meist einfaches aber glückliches Leben. Sie füllten die Straßen mit einem vertrauten Mix aus ihren Stimmen und den hupenden Zweierrädern.
Heute ist das anders. Ganz anders. Unwirklich, bizarr. Wie ein Albtraum, der nicht vorüber ist, wenn man am Morgen aufwacht. Wenn Tost heute aus dem Fenster schaut, sind kleine Papierfetzen, die vom Wind über die Gehsteige geweht werden, das einzige, was man sieht und hört. „Es ist gespenstisch“, sagt Tost, „wie in einer Geisterstadt. Man muss zu Hause bleiben, nur das Einkaufen für das Nötigste und Besuche beim Arzt sind gestattet. Die Polizei kontrolliert sehr streng.“
Jeden Tag, so der Tiroler, ändere sich etwas. Am Sonntag erfuhr er, dass auch der Große Preis von Aserbaidschan Anfang Juni abgesagt worden ist. Auch das Rennen in Kanada 14 Tage später steht auf der Kippe. „Keiner kann wirklich sagen, wann die Saison losgeht“, glaubt Tost, „frühestens aber im Juli.“
Seine Aufgabe in der Quarantäne heißt jetzt: „Die Firma am laufen halten, die Mitarbeiter motivieren. Ruhe ausstrahlen.“
Am Montag leitete er beispielsweise eine Videokonferenz mit dem Teammanager, dem Produktionschef und dem Leiter der Fabrik. Tost: „Seit Montag wurden in Italien alle Betriebe geschlossen, die für das Leben in Italien nicht absolut notwendig sind. Unsere Fabrik gehört natürlich dazu. Eigentlich wollten wir noch neue Teile produzieren. Das geht jetzt nicht mehr. Deshalb mussten das weitere Vorgehen diskutieren.“
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Alle zwei Tage telefoniert er mit seinen beiden Piloten Daniiel Kvyat und Pierre Gasly. Tost: „Immer abwechselnd. Am Montag war Kvyat dran, am Dienstag Gasly. Ich frage sie, wie es ihnen geht, was sie gerade machen. Ich motiviere sie, so gut es geht. Aber wann das normale Leben zurückkehrt, kann ich ihnen auch nicht sagen. Nur, dass es irgendwann passieren wird und man für diesen Tag gerüstet sein muss.“
Was Tost selbst am meisten fehlt: Das lange Laufen in der Natur. Der ehemalige Mittelstrecken-Läufer im österreichischen Nationalkader behilft sich jetzt ausschließlich mit Training in seinem Fitnessraum. Tost: „Ich habe zum Glück genügend Geräte dafür.“
Warum es Nord-Italien im Vergleich zu anderen Staaten in Europa mit Abstand am schwersten getroffen hat, kann Tost nicht genau beantworten. Er hat aber eine Theorie: „In Florenz zum Beispiel leben extrem viele Chinesen. Die Lombardei, speziell die Gegend um Mailand herum, ist wiederum ein Riesenindustriegebiet, mit viel Besuchern auf engem Raum, So nahm das Virus seinen Lauf, wie ein unsichtbarer Feind, den man viel zu spät erkannte. Darauf war hier niemand vorbereitet. Jetzt sind die Krankenhäuser völlig überlastet, deshalb gibt es die extremen Anordnungen und Notfallpläne. Man muss dem Virus den Vorsprung nehmen, den es hatte.“
Allein: Sein Kater Freddy, der immer für viel Abwechslung, Freude und Bodenhaftung gesorgt hat, lebt leider nicht mehr. Die Zeit, die man jetzt gezwungenermaßen mehr für sich selbst hat, will Tost mit Büchern nutzen. In seinem Regal für ungelesene Bücher stapeln sich die Schmöker. Sportlerbiografien, Romane. „Bedeutend ist“, sagt Tost, „dass man nicht aufgibt. Dass die schwere Zeit vorübergeht. Nicht das Wann ist wichtig, sondern das Dass.“ Sportlern fiele diese Einstellung sicher leichter.