Ich stelle ihn mir gerade vor, den alten indianischen Häuptling mit der rauen wettergegerbten Haut, die ähnlich rötlich schimmert wie der gigantische Felsen, auf dem er mit verschränkten Beinen irgendwo in der Wüste Utahs ruht und voller Demut auf die endlose Natur hinunter schaut.
Jene Natur, der er voller Demut geschworen hat, ihr ewig zu dienen. Mit einer Mischung aus Milde und Weisheit lächelt er in sich hinein, vorausgesetzt er würde sich für banale Dinge wie die Formel 1 überhaupt interessieren und die damit verbundenen Geschehnisse in Melbourne.
Wenn, kann ich seine Gedanken lesen, die gerade zu ihm sprechen. Der Mensch kann die Natur nicht besiegen, flüstert ihm, dem man sein Land genommen, aber nicht seine Weisheit und seinen Stolz, seine innere Stimme zu.
Allein: Man muss kein weiser Häuptling sein, um zu verstehen: Ein kleiner Virus hat gerade die Welt lahm gelegt. Corona hat dem Zentrum von High-Tech, Innovation und scheinbar bis ins kleinste Detail mögliche Planbarkeit der Formel 1 den Spiegel vorgehalten. In Australien präsentierten sich nahezu alle Verantwortlichen der automobilen Königsklasse wie Pfadfinder aus einer Großstadt, deren kleinen Zelte trotz aller Berechnungen zuvor beim ersten Campingausflug vom Wind einfach weggeblasen wurden. Sie glänzten mit Missmanagement in großem Stil.
Die Chronologie der Ereignisse war ein Zeugnis von Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit. Nachdem McLaren sich freiwillig vom Rennen verabschiedete, weil eines ihrer Teammitglieder positiv auf den Virus getestet wurde, hatten sich danach die Meldungen überschlagen. Sky Sport England verkündete am Donnerstagabend zunächst, das Rennen in Melbourne würde wie geplant stattfinden. Nur wenig später wurden sie von ihren Landsleuten der BBC überholt, die genau das Gegenteil behaupteten. Beide Fernsehsender hatten verschiedene Quellen innerhalb der Teams, deren Bosse stundenlang tagten, ob man das Rennen gefahren werden sollte.
Wie gewohnt, kamen sie nicht zu einer Einigung. Allein: Da befanden sich Fahrer wie Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen schon längst auf dem Flug zurück nach Europa. Licht in den Nebel des Chaos brachte mir Ex-Formel-1-Chef Bernie Ecclestone (89). Ich erreichte den Briten auf seiner Farm nahe Sao Paulo, wo er beim Essen war und genüsslich seine Hühner beobachtete, die gerade vor der großen Terrasse für allerlei Spektakel sorgten. “Das Problem war, dass sie zu lange nichts getan haben”, lässt der Brite kein gutes Haar an den Verantwortlichen der heutigen Formel 1.
Ecclestone glaubt auch den Grund für das viel zu lange Schweigen der Lämmer zu kennen. Er vermutet Angst vor rechtlichen Schritten, die der Verantwortliche einer Rennabsage über sich ergehen lassen muss. Ecclestone: “Es kommt nämlich immer darauf an, wer am Ende offiziell absagt. Wer es auch immer ist, er muss die Verantwortung, auch die finanzielle übernehmen. Und das wollte anscheinend niemand tun.“
Eins der Probleme: Höhere Gewalt, die normalerweise als Grund für Absagen von Massenveranstaltungen geltend gemacht werden kann, trifft diesmal wohl nicht zu. Darunter fallen zum Beispiel plötzliche Erdbeben – aber keine Virus-Epidemie, die schon lange vor dem Rennen bekannt war. Dazu passt: Die Veranstalter in Melbourne wollen den Fans, die vergeblich vor den Toren warteten, das Eintrittsgeld, das in der Summe in die Millionen geht, zurückerstatten. Wer aber für die Kosten aufkommt, der australische Promoter, Rechteinhaber Liberty oder der Automobilverband FIA, ist noch unklar.
Dazu passt auch: Der ehrwürdige Automobilclub von Monaco, der als der Mount Everest von Geschäftssinn und Geldgier gilt, schickte bereits kurz nach der Absage von Melbourne ein Statement heraus. Zusammengefasst heißt es: Unser Rennen Ende Mai wird von unserer Seite aus stattfinden. Soll heißen: Wenn nicht, ist das nicht unser Problem.
Sie beugen vor, denn sie wissen: Die nächsten Rennen am Sonntag in Bahrain und 14 Tage später in Vietnam wurden bereits verschoben. Mit den folgenden Großen Preisen von Holland, Barcelona und schließlich Monaco rechnet wegen der nicht berechenbaren Viruslage auch niemand mehr.
„Ich gehe erst vom Saisonauftakt in Baku Anfang Juni aus“, vermutet Red-Bull-Chefberater Helmut Marko. Auch weil die Teams aus Sicherheitsgründen bis 29. März ihre Fabriken schließen. Erst Anfang April gehen sie wieder in den normalen Arbeitsmodus über. Marko, der erst am Mittwoch nach Australien flog und bei der Ankunft am Freitagmorgen in Melbourne vom Entscheidungschaos erfuhr, ist desillusioniert und wütend zugleich: „Die Verantwortlichen legten ein Zeugnis von totalem Missmanagement ab. Es ist einfach nur unglaublich.“
Erklärungsversuche der Verantwortlichen geben Marko eher recht. Sportchef Ross Brawn versucht das Chaos mit einem Kommunikationsproblem zu erklären. Seine Worte bestätigen aber eher das Entscheidungsvakuum: „Wir mussten mit FIA-Präsident Jean Todt sprechen, der sich aber in der europäischen Zeitzone befand. Chase Carey wiederum war gerade in der Luft auf der Rückreise nach Vietnam.“
Liberty-Chef Chase Carey wiederum sah es als eine seiner Pflichten an, seinen Superstar Lewis Hamilton zu widerlegen. Der Brite hatte schon am Donnerstag harte Worte für die F1-Macher gefunden: „Wir sollten gar nicht hier sein. Aber Geld regiert die Welt.“ Careys Rechtfertigung klingt dünn und entlarvend: „Wenn Geld wirklich die Welt regieren würde, dann hätten wir diese Entscheidung nicht getroffen.“
Es gab nur einen Gewinner in Melbourne. McLaren-Teamchef Andreas Seidl. Der Niederbayer, der mit seiner Frau und beiden Töchtern in Pfaffenhofen wohnt, zog sofort sein Team zurück, als es den ersten positiven Coronatest bei seiner McLaren-Mannschaft gab. „Für mich gab es keine Wahl. Wir mussten das Team zurückziehen, denn die Gesundheit unserer Männer und Frauen steht über allem. Die Teambesitzer unterstützten uns sofort bei der Entscheidung.“
Fest steht: Gäbe es 25 WM-Punkte für Moral und Mut, McLaren hätte sie in Melbourne bekommen.